Das Haus Dr. Estrich zurück
Haus Dr. Estrich Jüterbog Richtfest 1929
(Wachsmann steht ganz links)
Haus Dr. Estrich Jüterbog Flachdachbau-Kubus-Turm 2008
Haus Dr. Estrich Jüterbog Terrasse Süd ca. 1930


Der junge Konrad Wachsmann lernte 1927-28 Emmi und Georg Estrich kennen. Man fand sich und beschloss, zusammen das Haus Dr. Estrich zu verwirklichen, von dem Konrad Wachsmann im hohen Alter selber sagte: „Das war jedenfalls der Anfang”. Der Anfang seiner, einer Weltkarriere, die bewegte, bewegt und bewegend ist. Das Haus sollte im Stil der Moderne errichtet werden. Emmi und Georg Estrich bestanden jedoch darauf, nicht auf der grünen Wiese zu bauen, sondern in und mit der Stadt Jüterbog das Haus zu errichten. Ein Grundstück direkt an der mittelalterlichen Stadtmauer mit prägnanten Wehrturm entsprach den Vorstellungen der Bauherren. Wachsmann stellte diesem Zeugnis der Geschichte einen Wohn- und Arbeitsturm in Kubusform modern und doch perfekt ergänzend entgegen. Es bilden sich auf dem Grundstück zwei Gewichte, die sich ausgleichen und die Balance finden. Alt und Neu stehen und fliessen zusammen. Von jedem Zimmer, auch das war Vorgabe der Bauherren, sollte der Turm inspirierend sichtbar sein. Wachsmann gelang dieses. Zwischen diesen beiden Türmen erstreckt sich ein Verbindungstrakt, welcher aus einem eingeschossigen Flachdachbau besteht und sich auf Traufhöhe in die historische Stadtmauer einschmiegt. Dieses verbindende Element schliesst einen Raum ein, der Sonne und Licht einfängt, ganz den Wünschen der Bauherren entsprechend. Vor den Kubus und den Flachdachbau setzte Wachsmann eine grosszügig geschwungene Terrasse, eine Bühne, die in geschickter Art alle baulichen Elemente verklammert. Die Höhenunterschiede im Gelände spielte Wachsmann durch Horizontalschichtungen aus und löste sie förmlich auf.

Das trapezförmige Grundstück inspirierte Wachsmann und animierte ihn zu dem geschwungene Flachdachbau. Die damit erreichte Grundstücksoptimierung erscheint so als Selbstverständlichkeit. Das Hausensemble besteht aus Schichten in allen Dimensionen. Die Geländeschichtung kam zur Sprache. In der äusseren Baukörperschichtung stehen Turm zu Turm mit beschriebenem Flachdachbau als Verbindungsglied . In der inneren Funktionsschichtung trifft man auf einen Wohn- und Schlaftraktbungalow, dem zwei Geschosse für Arztpraxis und Zusatzräume aufgesetzt sind. Wohnen und Praxis durften sich, auch das Bauherrenvorgabe, nicht stören oder beeinflussen. Wachsmann gelang das. Von den Praxisräumen hat man keinen Einblick in die Privaträume und revers. Durch zwei separate, sehr unterschiedliche Treppenhäuser erschliessen sich die Bereiche.

Wachsmanns Denken in der dritten Dimension ist an diesem Haus zu entschlüsseln. Der Praxisteil liegt im Obergeschoss und das Behandlungszimmer hat ein grosses Fensterband, durch das man einen Panoramablick auf die Altstadt mit Nicolaikirche und das Rathaus hat. Dieser raumpsychologisch wichtige Planungsaspekt sollte auf die Patienten positive Auswirkung haben und so den Behandlungs- und Heilungsprozess fördern. Wachsmann setzte dort Fenster, wo er diese als richtig sah. Die äussere, fast geschlossene Putzfläche lässt die Lichtdurchflutung im Inneren kaum erahnen. Die Intimität der Bewohner war im Innen- und Aussenbereich durchgehend gewährleistet. Das Haus wurde nach dem neusten Stand der Haustechnik konzipiert und ausgestattet. Gaszentralheizung, Waschmaschine und Gaskühlschrank waren vorhanden. Ein Wäscheabwurfschacht verkürzte die Wege und eine beheizbare Garage liess das Auto des Geburtshelfers Georg Estrich auch in tiefster Winternacht anspringen. Am Fusse des alten Wehrturmes hatte Georg Estrich seinen eigenen Kräuter- und Heilpflanzengarten angelegt.

Das Haus ist Wachsmanns einziger Ziegelmassivbau und das einzige Zeugnis der Klassischen Moderne in Jüterbog. Ob es sogar der einzige Bau der Klassischen Moderne ist, der im Kontext mit historischer Bausubstanz entstand, darf untersucht werden. Das Haus funktionierte über die Jahre und Wachsmann gab den Estrichs mehr, als sie erwartet hatten. Reklamationen oder Bauschäden blieben aus. Wachsmann und die Estrichs verband eine lebenslange Freundschaft.
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